13. August 2020
Prof. Dr. Karin Bräu vom Institut für Erziehungswissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) sowie Leonora Nieling und Marcel Georg, zwei Studierende der Initiative Kreidestaub Mainz e.V., konzipierten ein praxisbezogenes Seminar zu alternativen Schulformen: 45 Lehramtsstudierende sollten auf Lernreise gehen. In Zeiten von Corona allerdings schien die Durchführung unmöglich.
"Wir alle haben viel dazugelernt in den letzten Wochen", meint Prof. Dr. Karin Bräu vom Institut für Erziehungswissenschaft der JGU. "Ich war davon überzeugt, dass wir unser Seminar unter den gegebenen Bedingungen unmöglich durchführen könnten. Doch dann kamen die Studierenden auf mich zu und meinten, wir sollten versuchen, die Veranstaltung digital zu arrangieren. Zuerst war ich skeptisch, aber dann merkte ich, wie der Funke übersprang: Wir fanden eine gute Lösung."
Das Seminar "Innovative Schule und Lernreise" war von Beginn an ein außergewöhnliches Projekt: Zwei Mitglieder der Mainzer Studierendengruppe Kreidestaub Mainz e.V. wollten in Zusammenarbeit mit Bräu ein Lehrangebot auf die Beine stellen, das voll ins offizielle Curriculum der Bildungswissenschaft integriert sein würde. Bereits Anfang des Jahres, als noch niemand etwas von der bevorstehenden Corona-Pandemie und deren Auswirkungen auf den Lehrbetrieb ahnte, begannen Bräu, Leonora Nieling und Marcel Georg mit der Konzeption.
Pädagogik jenseits der Regelschulen
"Innovative Schule und Lernreise" baut auf einem Format auf, das eine zentrale Rolle in der Arbeit von Kreidestaub spielt: 2013 riefen Berliner Studierende den ersten Kreidestaub-Verein als "Bewegung zur Verbesserung der Lehrkräftebildung" ins Leben. In der Folge bildete sich ein Netzwerk, das mittlerweile 18 Universitäten umfasst. 2016 kam die JGU hinzu. Zehn Studierende gründeten Kreidestaub Mainz e.V. Gleich im ersten Jahr organisierten die Mainzer eine Veranstaltung nach Berliner Vorbild: Innerhalb von zwei Wochen besuchten sie sechs innovative Schulen. Sie schauten sich den Unterricht an, sprachen mit der Schulleitung und den Lehrkräften, mit Schülerinnen und Schülern, aber auch mit den Eltern. Dieses "Prinzip Lernreise" war erfolgreich, es kam gut an bei den Lehramtsstudierenden der JGU.
Kreidestaub bietet noch eine ganze Reihe weiterer Veranstaltungen: Regelmäßig finden Workshops, Seminare und Vorträge statt. "Wir wollen mehr Praxiserfahrung ins Lehramtsstudium integrieren und zusätzliche Aspekte einbringen", sagt Nieling. "Mit der Lernreise stellen wir innovative Lehrkonzepte vor und zeigen, was es neben der Regelschule an Alternativen gibt. Uns ist es dabei wichtig, eine möglichst große Bandbreite zu präsentieren. Wir schauen uns sowohl private als auch staatliche Einrichtungen an: Grundschulen, weiterführende Schulen und Berufsschulen." – "Wir sammeln Impulse, um eingefahrene Vorstellungen aufzubrechen", sagt Georg. "Am Ende sollen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sagen: Ah, so kann Schule also auch funktionieren."
Eine Idee von Kreidestaub ist es, die eigenen Initiativen institutionell an den Universitäten einzubinden. Mit der Lernreise gelang das recht schnell: In Rheinland-Pfalz wurde sie als Orientierungspraktikum anerkannt. Das funktionierte auch deswegen recht reibungslos, weil die Mitglieder von Kreidestaub mit ihren Anliegen offene Türen an der JGU einliefen: "Die Professorinnen und Professoren reagieren sehr positiv auf unsere Ideen", erzählt Georg. "Einige unterstützen uns sogar aktiv." So half Bräu, als es darum ging, den Antrag in Sachen Lernreise beim rheinland-pfälzischen Bildungsministerium zu stellen. Nun konnte Kreidestaub ein eigenes Seminar für 10 bis 15 Studierende anbieten.
Mit Studierenden-Projekt ins Curriculum
Für das Sommersemester 2020 bauten Bräu und Kreidestaub ihre Zusammenarbeit noch weiter aus: Sie stellten beim Gutenberg Lehrkolleg (GLK) der JGU einen Antrag. "Wir wollten die Lernreise als innovatives Lehrprojekt im Studium verankern", erzählt Nieling. "Dafür sollte es dann auch Credit Points geben und es sollte möglich sein, sich dazu prüfen zu lassen." Der Antrag wurde bewilligt. Mit den Mitteln des GLK stellte Bräu Nieling und Georg als wissenschaftliche Hilfskräfte ein. "Kreidestaub hat bundesweit bereits einiges auf den Weg gebracht", meint Georg, "aber, dass eines unserer Angebote ins Regelstudium eingebaut wird, ist bisher einmalig. Das geschieht so nur an der JGU."
Nun begann die konkrete Arbeit. "Es war gar nicht so einfach, ein freies Studierenden-Projekt an ein curricular festgelegtes Seminar zu koppeln“, erzählt Bräu. "Schließlich sollte die Lernreise dabei ihren ursprünglichen Charakter behalten." Eines der drei bildungswissenschaftlichen Module zum Themenkomplex Heterogenität bot sich an: das Seminar "Leistung, Differenzierung, Beratung – praktische Implikationen".
Statt der ursprünglichen zweiwöchigen Exkursion planten Bräu, Nieling und Georg drei Ein-Tage-Trips zu ausgesuchten Schulen. Zudem sollte auf freiwilliger Basis später noch eine ausgedehntere Reise zu weiteren Schulen möglich sein. Eine wissenschaftliche Vorbereitung hatte Kreidestaub bereits bei seinem ursprünglichen "Prinzip Lernreise" angeboten, nun wurde der Aspekt noch mal vertieft. "Wir buchten auch zwei zusätzliche Räume, um die Studierenden in drei kleineren Gruppen betreuen zu können", bemerkt Bräu. "Uns war es wichtig, sie stark einzubinden." Rund 45 Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren insgesamt vorgesehen.
Alles war so weit bereit. "Die Konzeption kostete uns viel Zeit und mir war klar, dass auch das Seminar selbst aufwändig werden würde", so Bräu. "Doch das war es mir wert. Ich fand das Projekt einfach unglaublich spannend." Dann allerdings kamen Corona und der Lockdown – auch für die JGU. "Von den drei kontaktierten Schulen, der Grundschule Gau-Odernheim, der Frankfurter IGS Süd und der Wiesbadener Helene-Lange-Schule, bekamen wir recht bald Absagen. Das war nur zu verständlich, aber für uns natürlich auch bedrückend."
Umstellung auf digitale Schulbesuche
"Wir sagten uns: Wir probieren es trotzdem", nimmt Nieling den Faden auf. "Wir kontaktierten Schulen, die wir bereits von vorherigen Lernreisen her kannten, und arrangierten Videokonferenzen." Unter diesen Voraussetzungen war Gau-Odernheim wieder mit im Boot. Hinzu kamen die Freien Aktiven Schulen Wülfrath, die Werkstattschule Rostock und die Freiherr vom Stein Schule in Neumünster. Die Auswahl war nicht mehr auf Mainz und Umgebung beschränkt.
"Bei unseren digitalen Schulbesuchen waren jeweils die Schulleitungen dabei, Lehrerinnen und Lehrer, aber zum Teil auch Schülerinnen und Schüler", berichtet Bräu. "Ich war überrascht und begeistert, was dabei herumkam, wie viel sich von der Atmosphäre in den einzelnen Schulen vermitteln ließ."
Im Vorfeld recherchierten die Studierenden, die nun in vier Kleingruppen arbeiteten, auf einschlägigen Websites Details: Wie groß sind die Schulen, wer sind die Träger? Welche Lehrkonzepte gibt es, wie steht es um die Partizipation und wie gehen die Schulen mit Heterogenität um? "Unsere Studierenden entwickelten eigene Fragenkataloge und leiteten auch selbst die Interviews. Sie informierten sich nicht nur über den Regelbetrieb der Schulen, sondern auch darüber, wie sie auf Corona reagieren. Letzten Endes klappte alles sehr gut. Die Rückmeldungen der Studierenden zu den digitalen Schulbesuchen waren durchweg positiv."
Wie es genau weitergehen wird mit dem Seminar "Innovative Schule und Lernreise", ist noch ungewiss. Aber Bräu, Nieling und Georg sind sich einig, dass es weitergehen soll. "Vielleicht entwickeln wir eine Mischform zwischen digitalen und analogen Schulbesuchen", meint Nieling. "Nur, ob wir kommenden September unsere eigentliche Lernreise durchführen können, steht leider noch in den Sternen." – "Auf jeden Fall wollen wir dieses besondere Seminar verstetigen, auch wenn die Finanzierung des GLK für innovative Lehrprojekte üblicherweise nach 15 Monaten ausläuft", bekräftigt Bräu. Im Sommersemester 2021 soll es wieder so weit sein.