3. April 2025
Als Muse der Geschichtsschreibung hält Clio eigentlich Papyrusrolle und Griffel in der Hand – bereit, Vergangenes festzuhalten. Doch für ein Lehrprojekt der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) präsentiert sich die mythologische Gestalt mit Tablet und Headset. Clio 2.0 soll Studierende damit in ihrer digitalen Lebenswelt erreichen: auf YouTube, auf TikTok und vor allem auf Instagram.
"Die Idee zu Clio 2.0 entstand aus der Beobachtung, dass das Fach Geschichte in sozialen Medien kaum präsent ist", erklärt Dr. Andreas Frings, Studienmanager am Historischen Seminar der JGU. "Und das, obwohl die Studierenden genau dort viel unterwegs sind." Mit dem Projekt wollte man Geschichte einerseits öffentlich sichtbar machen, andererseits den Studierenden neue Formen wissenschaftlichen Arbeitens eröffnen.

Der Podcast "Clio auf die Ohren" war am Historischen Seminar schon zuvor eingeführt – mit einer Staffel über historische Pandemien und Epidemien im ersten Coronajahr. Seit der zweiten Staffel produzieren Studierende die Inhalte. Mit Clio 2.0 ist die digitale Lehre nun um weitere moderne Medienformate ergänzt – ein Lernprozess auch für die Lehrenden. "Nachdem Studierende zum Beispiel als Wunschformat für ein Seminar Instagram vorgeschlagen hatten, mussten einige von uns sich erst einen Account auf der Plattform einrichten", berichtet Frings. "Lehrende und Studierende gehen hier gemeinsam ins Ungewisse. Dabei entstehen Dinge, die wir nie selbst geplant hätten. Und genau das macht es spannend."
Geschichte zum Hören und Sehen
Die mediale Plattform Clio 2.0 unterstützt das Historische Seminar auch in der Projektlehre im Rahmen des sogenannten Mainzer Modells für digital erweitertes Lehren und Lernen (ModeLL-M) an der JGU, das von der Stiftung Innovation in der Hochschullehre gefördert wird. Im Jahr 2021 in den drei Bereichen Geschichte, Bildungswissenschaften und Medizin gestartet, wurde das Modell inzwischen auf weitere Fächer wie Biologiedidaktik und Theologie ausgeweitet. So entstand ein Insekten-Erlebniscampus mit QR-Codes zur Artenvielfalt auf dem Gutenberg-Campus, während Studierende der Theologie Fragen von Jugendlichen in Podcasts und Videos beantworten.
Am Historischen Seminar wuchs Clio 2.0 weiter: Studierende gestalteten Kurzfilme, digitale Ausstellungen und einen antiken Stadtrundgang durch Mainz. "Uns war wichtig, dass sie Geschichte dabei nicht nur konsumieren, sondern selbst erzählen und präsentieren", erklärt Dr. Andreas Frings.

Lea Milnazik etwa war an zwei Clio 2.0-Projekten beteiligt. So entstand unter der Leitung von Prof. Dr. Bettina Braun ein digitaler Mainzer Kalender, der Frauen aus früheren Jahrhunderten ein Gesicht verleihen wollte. Die Studierenden porträtierten darin zwölf Mainzer Frauen und eine Unbekannte aus der Zeit um 1800. "Für unsere Recherchen durchstöberten wir unter anderem das Stadtarchiv und besuchten alte Friedhöfe", so Milnazik. Entstanden sind Kalendergeschichten, die Einblicke in das Leben ganz unterschiedlicher Frauen geben – von der Tochter einer Mainzer Fabrikantenfamilie, die mit nur 23 Jahren nach der Geburt ihres Kindes starb, bis zur Äbtissin, die über vier Jahrzehnte das Altmünsterkloster leitete.
Selbst gestaltet statt nur zuhören
In einem weiteren Projekt arbeiteten Milnazik und ihre Mitstudierenden an einer virtuellen Präsentation zu den beiden "Reichsenden" am Rhein 1798 und 1918 – zwei Zeitabschnitten, in denen Mainz Schauplatz einer deutsch-französischen Verflechtungsgeschichte war. Hier stellten die Studierenden digital dar, wie französische Soldaten mit wehender Tricolore durch Mainz zogen, illustrierten die politischen Umbrüche dieser Jahre mit virtuell eingebundenen Landkarten, Kupferstichen und historischen Postkartenansichten.
"Es ist eine ganz andere Erfahrung, mal nicht nur zuzuhören, sondern selbst zu produzieren und zu gestalten", betont Milnazik. "Weil ich eine historische Geschichte so rüberbringen muss, dass auch andere sie spannend finden." So verstehe nun auch ihre Familie, was sie in ihrem Studium eigentlich mache. "Eine Ausstellung oder ein Podcast ist für Außenstehende einfach greifbarer als eine rein wissenschaftliche Hausarbeit."

Das studentische Interesse an den digitalen Projekten ist groß: "Bei den Teilnehmendenzahlen sind wir inzwischen weit im dreistelligen Bereich", so Andreas Frings. Dabei bedeute die Arbeit an den digitalen Formaten für alle Beteiligten "spürbar mehr Aufwand als ein klassisches Seminar". Denn Studierende und Lehrende investieren zusätzliche Zeit, um Recherchen mediengerecht aufzubereiten, Podcasts zu schneiden oder digitale Ausstellungen zu gestalten. "Aber der Mehraufwand lohnt sich – weil die Studierenden Fähigkeiten erwerben, die weit über das Fach hinausreichen."
Präsentation über das Remix-Portal
Lena Minkus, die an der JGU Geschichte und Audiovisuelles Publizieren studiert, wirkte als studentisches Beiratsmitglied bei Clio 2.0 mit. Für sie sei es spannend gewesen, die Entwicklung der Projekte über einen längeren Zeitraum hinweg zu begleiten. "In den Planungssitzungen konnte ich die studentische Perspektive einbringen und so die Projekte mitgestalten", erinnert sich die Studentin. Durch ihre Arbeit an Clio 2.0 habe sie nicht nur ihre fachlichen Kenntnisse erweitert, sondern auch wichtige kommunikative Kompetenzen für den Weg in den Beruf erworben.
Das Zentrum für Audiovisuelle Produktion der JGU unterstützt die Geschichtsstudierenden dabei, ihre Podcasts und Videos professionell umzusetzen. Es ist nur eine von mehreren Kooperationen im Rahmen von Clio 2.0, durch die historische Forschung nicht nur akademisch, sondern auch für die Öffentlichkeit aufbereitet wird. So arbeiten die Studierenden eng mit dem Mainzer Stadtarchiv zusammen, um historische Quellen vor Ort zu erschließen. Und die Universitätsbibliothek Mainz unterstützt sie bei der digitalen Präsentation der Ergebnisse, etwa über das Remix-Portal.

Doch wie benoten Dozierende eine digitale Ausstellung – oder einen Podcast? "Was wir bewerten, ist nicht das digitale Ergebnis selbst, sondern eine Reflexion, die die Studierenden zu ihrem Projekt schreiben", so Frings. "Wie sind sie vorgegangen, was haben sie gelernt, wie gut ist ihre Arbeit wissenschaftlich fundiert und was bedeutet sie für die Öffentlichkeit?" Von den Studierenden wird diese Herangehensweise geschätzt: "Viele erarbeiten ja zum ersten Mal so ein digitales Projekt", erklärt Minkus. "Da ist es gut, dass nicht nur das fertige Produkt zählt, sondern quasi auch der Weg dorthin."
Digitale Formate – mal nachhaltig, mal vergänglich
Eine Herausforderung bei der Rezeption der digitalen Formate sei oft ihre Kurzlebigkeit: "Instagram-Stories oder YouTube Shorts sind nach 24 Stunden – oder ein paar Tagen – wieder weg", so Frings. "Das tut mir als Historiker manchmal in der Seele weh, weil Geschichte eigentlich von Dingen lebt, die bleiben." Anders sei das bei Podcasts. "Der Podcast ist ein besonders nachhaltiges Format, weil er auch in fünf Jahren noch auffindbar ist", so Frings. "Wenn man auf Spotify einen Podcast über den Aralsee sucht, stößt man auch auf unseren."
Inzwischen sind die Clio 2.0-Projekte fest in den Lehrplan eingebunden und sollen auch nach Ablauf der Förderung durch die Stiftung Innovation in der Hochschullehre Ende 2025 fortgeführt werden. So sind für einige Formate Förderanträge in Arbeit. Zudem soll die digitale Projektlehre in drei neuen Masterstudiengängen am Historischen Seminar dauerhaft verankert werden. "Und der Instagram-Kanal als Herzstück des Projekts bleibt sowieso bestehen", betont Studienmanager Frings. Damit führt Clio 2.0 fort, was bereits ihre Namensgeberin aus der antiken Mythologie verkörperte: Sie bewahrte Geschichten und Heldentaten nicht nur, sondern trug sie auch weiter und machte sie öffentlich.
Text: Anja Burkel