23. Januar 2024
Wenn sich eine Ärztin nicht mit ihrem Patienten verständigen kann, weil dieser kaum Deutsch spricht, ist das ein ernstes Problem. Und solche Situationen sind keine Seltenheit. Fachleute plädieren daher für den flächendeckenden Einsatz von Sprachmittlung im Gesundheitswesen. Einer der renommiertesten Experten auf diesem Gebiet ist Prof. Dr. Bernd Meyer, Leiter des Arbeitsbereichs Interkulturelle Kommunikation am Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der JGU.
Für Menschen, die wenig Deutsch sprechen, gehören Sprachbarrieren zum Alltag. Während die redensartliche Verständigung mit Händen und Füßen in vielen Situationen ausreichen mag, ist das bei Arztbesuchen oder Krankenhausaufenthalten eine andere Sache. Ohne Sprachkenntnisse ist eine Kommunikation über medizinische Themen nicht möglich. "Das behindert die Versorgung der Patientinnen und Patienten und erschwert die Arbeit des Fachpersonals", erklärt Prof. Dr. Bernd Meyer.
Obwohl dieses Problem mehrere Millionen Menschen in Deutschland betrifft, gibt es bislang keine Regeln für den Einsatz von Sprachmittlung im Gesundheitswesen. "Das muss sich ändern", sagt Meyer. Der Linguist befasst sich seit langem mit Sprachmittlung in öffentlichen Einrichtungen. Zu seinen Schwerpunkten in Forschung und Lehre gehört das Dolmetschen im Gesundheitswesen. Als ausgewiesener Experte war er bereits Sachverständiger im Gesundheitsausschuss des Bundestags.
Sprachmittlung ist der Oberbegriff für alle Formen des Übersetzens und Dolmetschens, also der Übertragung sprachlicher Äußerungen aus einer Sprache in eine andere. Dolmetscherinnen und Dolmetscher wie die, die am Fachbereich 06 in Germersheim ausgebildet werden, verfügen nicht nur über hervorragende Sprachkenntnisse, sondern auch über interkulturelle Kompetenz.
Bei Sprachmittlern müsse es sich aber nicht zwingend um solch hochqualifizierte Personen handeln, betont Meyer. "Es ist keineswegs erforderlich, den Einsatz von Dolmetscherinnen und Dolmetschern im Gesundheitswesen genauso streng zu reglementieren wie im Gerichtswesen", sagt er. "Aber es ist auch nicht mehr zeitgemäß, dass alle sich irgendwie durchwurschteln." Denn fast immer sind Personen ohne ausreichende Deutschkenntnisse darauf angewiesen, dass Angehörige oder Bekannte sie zum Beispiel zum Arzt begleiten und übersetzen. "Sich dauerhaft auf dieses private Engagement zu verlassen, ist weder nachhaltig noch einer offenen Gesellschaft angemessen", erklärt Meyer.
Reibungsverluste vermeiden
Was nicht vergessen werden darf: Sprachbarrieren stellen nicht nur ein Problem für die Patientinnen und Patienten selbst dar, sondern auch für das medizinische Personal. "Es ist eine ernstzunehmende Herausforderung, wenn die Verständigung nicht gewährleistet ist", sagt Meyer. Daher sehe er es als gesellschaftliche Pflicht, Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen: "Denn Sprachmittlung ist in meinen Augen genau das: ein Hilfsmittel, damit Fachkräfte ihre Arbeit ohne Reibungsverluste machen können."
Die Ampelparteien haben sich im Koalitionsvertrag darauf verständigt, dass ein Anspruch auf Sprachmittlung im Rahmen der Gesundheitsversorgung als Leistung im Sozialgesetzbuch verankert werden soll. Sozialverbände fordern die Aufnahme in den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV). Allerdings sei gerade das Thema Finanzierung strittig, sagt Meyer, der im vergangenen Mai als Sachverständiger zu einer Anhörung des Gesundheitsausschusses geladen war. Denn der GKV-Spitzenverband lehnt eine Kostenübernahme für Sprachmittlung ab mit der Begründung, das Dolmetschen sei nicht Teil der ärztlichen Behandlung.
Ungeachtet der Frage, wer letztlich für Sprachmittlung bezahlt, hält Meyer eine gesetzliche und damit bundesweit einheitliche Regelung im Sinne einer gleichberechtigten Gesundheitsversorgung für dringend geboten. "Andernfalls bleiben Sprachbarrieren eine strukturelle Benachteiligung von Personen mit geringen Deutschkenntnissen", erklärt er. Schlimmstenfalls sei die Behandlungsqualität beeinträchtigt und der Behandlungserfolg gefährdet.
Pragmatisch und flexibel
Wie es anders geht, zeigt ein Blick ins benachbarte Ausland. Die Schweiz habe über Jahrzehnte in den Aufbau von Sprachmittlungsstrukturen investiert, sagt Meyer. Mittlerweile gibt es dort ein Netz regional tätiger Vermittlungsstellen und Kriterien für die Zertifizierung von Sprachmittlern. Nachgefragt werden vor allem Sprachen, die infolge von Flucht oder Arbeitsmigration präsent sind, etwa Arabisch und Albanisch. Rund die Hälfte der Einsätze entfallen auf das Gesundheitswesen. "In der Schweiz sind die Menschen generell offen für Mehrsprachigkeit, und man geht pragmatisch mit dem Thema um", stellt Meyer fest. "Landesweit sind mehrere tausend Personen als Sprachmittler tätig, aber es wird nicht erwartet, dass sie alle auf dem gleichen Niveau dolmetschen können. Für viele von ihnen ist Sprachmittlung nur ein kleiner Nebenverdienst." Entsprechend flexibel seien die Anforderungen an die Qualifizierung.
Diese Flexibilität wünscht sich Meyer auch in Deutschland. Er geht auf Basis einer vorsichtigen Schätzung hierzulande von 800.000 bis einer Million Einsätzen pro Jahr aus. "Um diesen Bedarf decken zu können, brauchen wir ein System, das nicht zu kompliziert und vor allem nicht zu teuer ist", sagt er. Beispielsweise müsse die dolmetschende Person nicht immer vor Ort sein. Vielmehr könne Sprachmittlung auch per Telefon oder Videokonferenz erfolgen.
Pragmatismus ist nach Ansicht des Experten auch im Hinblick auf die Zertifizierung von Sprachmittlern angezeigt. Die grundsätzliche Sprachkompetenz lasse sich anhand des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen feststellen, der verschiedene Niveaustufen von A1 (Anfänger) bis C2 (annähernd muttersprachlich) definiert. "Wer zwei Sprachen spricht, kann im Prinzip auch als Sprachmittler tätig werden", sagt Meyer. Allerdings erachte er medizinische Basiskenntnisse und ein Grundwissen über das Gesundheitswesen für notwendig, um etwa ein Arzt-Patienten-Gespräch angemessen begleiten zu können.
KI ist kein adäquater Ersatz
Immer wieder werden digitale Hilfsmittel, also maschinelle Übersetzungstools, als mögliche Alternative für Sprachmittlerinnen und Sprachmittler ins Spiel gebracht. Meyer hält dies auf absehbare Zeit für keine gangbare Option. "Digitale Spracherkennung hat Grenzen, nicht nur inhaltlich, sondern auch technisch", betont er. Entsprechende Smartphone-Apps scheitern zum Beispiel an Hintergrundgeräuschen, Dialekten oder leisen Stimmen. "Künstliche Intelligenz führt einen Algorithmus aus, unabhängig von der individuellen Gesprächssituation", erklärt Meyer. "Sie kann wichtige Signale nicht von unwichtigen unterscheiden. Und dann produziert sie Quatsch."
Ein Mensch, der dolmetscht, geht dagegen auf den Gesprächsverlauf ein, kann präzisieren, Nachfragen stellen und nonverbale Kommunikation berücksichtigen. Nicht zuletzt deshalb ist Sprachmittlung in öffentlichen Einrichtungen oder im Gesundheitswesen ein Thema, mit dem sich die Studierenden am Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft auseinandersetzen. "Wir haben es hier mit asymmetrischen Gesprächssituationen zu tun, mit einer Asymmetrie des Wissens und der Macht, weil sich die Beteiligten nicht auf Augenhöhe begegnen", erläutert Meyer. Das sei eine grundlegend andere Ausgangssituation als etwa beim Konferenzdolmetschen, wenn Experten mit Experten reden. "Sprachmittlung im Gesundheitswesen geht mit besonderen Herausforderungen einher. Und damit befassen wir uns natürlich auch in der Lehre."
Text: Alexandra Rehn