Zentrum für seltene Krankheiten

4. Mai 2016

Ende 2015 eröffnete das Zentrum für seltene Erkrankungen des Nervensystems (ZSEN) an der Universitätsmedizin Mainz. Es ist ein wichtiger Knotenpunkt in einem neu zu schaffenden Netz von Zentren, das Menschen mit seltenen Erkrankungen auffangen soll. Für die meisten dieser Erkrankungen gab es bisher nur geringe Chancen auf eine adäquate Diagnose oder auf eine Erfolg versprechende Therapie.

Ihre Tochter möchte ebenfalls mal Ärztin werden, aber auf keinen Fall eine solche Ärztin wie ihre Mutter. "Sie will Chirurgin werden. Sie sagt, so kann sie den Menschen mit einer Operation schnell und direkt helfen", erzählt Univ.-Prof. Dr. Susann Schweiger. "Bei uns ist oft bereits das Stellen der Diagnose eine Herausforderung. Um eine Therapie zu finden, brauchen wir einen langen Atem und die Vernetzung mit der Grundlagenforschung."

Schweiger ist Sprecherin des Ende 2015 gegründeten Zentrums für seltene Erkrankungen des Nervensystems (ZSEN) an der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Sie beackert dort ein schwieriges Feld. "Es gibt viele Krankheiten, bei denen wir nicht wirklich etwas machen können, die wir noch nicht richtig begreifen." Das gilt vor allem für die sogenannten seltenen Erkrankungen. "Um eine Krankheit zu verstehen, braucht es einen gewissen Vorlauf." Diagnosen müssen gestellt, Krankheitsverläufe beobachtet werden. "Aber bei manchen Krankheiten kennen wir überhaupt nur drei, vier Fälle. Mit so wenigen Patienten ist es ungeheuer schwer, wirklich etwas herauszufinden, geschweige denn, eine Therapie zu entwickeln."

Vier Millionen sind betroffen

Als selten wird eine Krankheit eingestuft, wenn sie weniger als fünf von 10.000 Personen betrifft. Etwa 7.000 solcher Erkrankungen gibt es. Aber so selten diese Erkrankungen auch sein mögen, allein in Deutschland sind rund vier Millionen Menschen davon betroffen. Und wer unter einer seltenen Erkrankung leidet, hat erst mal schlechte Karten. Viele Patienten wandern von Arzt zu Arzt, bevor ihre Symptome überhaupt richtig zugeordnet werden können. Krankenkassen reagieren oft nicht allzu flexibel auf diese besonderen Fälle und Medikamente stehen womöglich noch gar nicht zur Verfügung.

Um hier Abhilfe zu schaffen, haben das Bundesministerium für Gesundheit, das Bundesministerium für Bildung und Forschung sowie der Verein ACHSE (Allianz Chronischer seltener Krankheiten) im Jahr 2010 das Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) ins Leben. Das Bündnis erarbeitete einen Aktionsplan, nach dem bundesweit ein Netz von Zentren entstehen soll, die sich mit seltenen Erkrankungen beschäftigen.

Drei Typen von Zentren sind geplant. Ganz oben auf der Liste stehen die Typ-A-Zentren, in denen alles zusammenläuft. Meist sind sie an Universitätskliniken angesiedelt, wie beispielsweise das Mainzer ZSEN. "Die Typ-A-Zentren bilden das Dach", skizziert Schweiger die Struktur. "Die Typ-B-Zentren sind die Anlaufstellen für einzelne Krankheiten. Die C-Zentren kümmern sich um die Versorgung der Menschen vor Ort."

Chancen durch Gen-Sequenzierung

Das ZSEN kümmert sich besonders um seltene Erkrankungen des Nervensystems. Es ist eingebunden in das Forschungszentrum Translationale Neurowissenschaften (FTN) der Universitätsmedizin Mainz, in die JGU und in das Rhine-Main Neuroscience Network (rmn²), einem groß angelegten Zusammenschluss von Forschungsinstitutionen in Frankfurt und Mainz, zu dem unter anderem die Universitäten und die Universitätskliniken der beiden Städte gehören. Zudem arbeitet das ZSEN eng mit dem Frankfurter Typ-A-Zentrum zusammen. "Dort ist man breiter aufgestellt, dafür kennen wir uns besser auf dem neurologischen Gebiet aus. Wir haben zum Beispiel ein Spezialzentrum für Morbus Huntington."

Von diesen Einbettungen profitiert das ZSEN. Ärztinnen und Ärzte verschiedenster Fachrichtungen arbeiten hier eng zusammen. "Grundlagenforscherinnen und -forscher tauschen sich mit dem klinischen Bereich aus. Gerade durch rmn² konnten wir in den letzten Jahren einen Verbund aus Kolleginnen und Kollegen entwickeln, die gemeinsam ungeheuer kreatives Potenzial entwickeln."

Schweiger selbst ist Direktorin des Instituts für Humangenetik an der Universitätsmedizin Mainz. Sie weiß: "Rund 80 Prozent der seltenen Erkrankungen sind genetisch bedingt. Die modernen Methoden der Gen-Sequenzierung eröffnen uns ganz neue Chancen in der Diagnosefindung. Noch nie war das Tor so weit offen, seltene Krankheiten zu verstehen und zu diagnostizieren. Wir können jetzt in großen Mengen Erbsubstanz analysieren und so seltene Erkrankungen mit den Defekten einzelner Gene in Verbindung bringen."

Mehr Aufmerksamkeit, mehr Öffentlichkeit

Allerdings ist das Verfahren relativ aufwendig und nicht ganz billig. "Die Analyse eines Genoms dauert etwa acht Monate und kostet inklusive Analyse und Interpretation rund 4.000 Euro. Nach der Sequenzierung müssen wir das Datenmaterial erst einmal analysieren. Wir suchen in internationalen Datenbanken und in der Literatur nach Indizien, dass eine Genvariante tatsächlich mit einer Erkrankung zusammenhängt."

Viele Krankenkassen sind zögerlich, wenn es darum geht, solch eine Analyse zu finanzieren. "Sie verstehen oft noch nicht, dass eine seltene Erkrankung eben selten ist. Wenn sie eine Sequenzierung finanzieren, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass sie viele weitere bezahlen müssen. Bei den seltenen Erkrankungen geht es immer um Einzelfälle."

Doch diese Einzelfälle brauchen mehr Aufmerksamkeit, mehr Öffentlichkeit. Auch dafür steht das ZSEN. "Wir müssen seltene Erkrankungen bekannter machen. Dabei brauchen wir auch die Unterstützung der Betroffenen und der bestehenden Selbsthilfegruppen."

Fehlendes Verständnis

Vielfach mangelt es am Verständnis für Menschen mit Auffälligkeiten, mit seltenen Erkrankungen, oft bleiben diese schlicht unerkannt. Schweiger führt das Beispiel von Eltern mit verhaltensauffälligen Kindern an, die schnell unter Druck geraten können. "In Schulen oder Kitas werden die Auffälligkeiten unwillkürlich auf die Eltern zurückgespiegelt. Es heißt dann zum Beispiel: Das Kind darf zu viel fernsehen, die Erziehung läuft schlecht, die Eltern machen etwas falsch. Wenn eine Diagnose, etwa durch die Identifikation des verursachenden Gendefekts, gestellt wird, sind viele dieser Eltern sehr erleichtert, denn dann wird klar, dass es sich um eine Krankheit handelt, die wir diagnostizieren können und zu der sich vielleicht eine Therapie entwickeln lässt – eine Krankheit, die auch andere treffen kann und an deren Entstehung die Eltern keine Schuld tragen."

Mit dem ZSEN ist ein guter Schritt getan, da ist Schweiger sicher. "Mainz ist ein hervorragender Standort." Im Moment dient das Zentrum vor allem als Plattform, auf der sich Spezialisten verschiedenster Richtungen austauschen können, als Impulsgeber. Nach außen hin signalisiert es Patienten mit seltenen Krankheiten, dass sie sich mit ihren gesundheitlichen Beschwerden und Nöten genau hierhin wenden können und ihnen nach Möglichkeit geholfen wird.

Das Tor des ZSEN ist weit geöffnet, nun müssen möglichst viele – egal ob Patienten oder Politiker, Geldgeber oder Pharmakonzerne – hindurchtreten, um eine Versorgung der Patienten zu ermöglichen, Diagnosen zu stellen und um passende Medikamente zu entwickeln. Dann kann das Zentrum wachsen und mit ihm das Verständnis für seltene Erkrankungen.