19. Juli 2024
Von Reifengummi über Schäume bis hin zum eigenen Körpergewebe: Sogenannte weiche Materie – oder "soft matter" im Englischen – begegnet uns überall im Alltag. Der internationale Masterstudiengang "Soft Matter and Materials" der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der Technischen Universität Darmstadt beschäftigt sich mit dieser besonders vielversprechenden Materialgruppe.
Der Begriff "soft matter" wurde 1991 vom französischen Physiker Pierre-Gilles de Gennes in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Physik-Nobelpreises definiert. "Seither hat die Relevanz der Erforschung von weicher Materie kontinuierlich zugenommen", berichtet Sebastian Seiffert, Professor für Physikalische Chemie der Polymere am Department Chemie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Seiffert ist von Mainzer Seite aus Programmdirektor des internationalen Masterstudiengangs "Soft Matter and Materials", den die JGU gemeinsam mit der Technischen Universität Darmstadt und dem Max-Planck-Institut für Polymerforschung in Mainz (MPI-P) seit dem Wintersemester 2023/2024 anbietet.
Der Masterstudiengang ist ein Leuchtturmprojekt im Verbund der Rhein-Main-Universitäten (RMU). Programmdirektorin seitens der TU Darmstadt ist Prof. Dr. Regine von Klitzing vom dortigen Institut für Physik Kondensierter Materie (IPKM). Seit 2019 arbeiten von Klitzing und Seiffert auch in der DFG-Forschungsgruppe FOR 2811 "Adaptive Polymergele mit kontrollierter Netzwerkstruktur" zusammen. Die beiden kennen sich aber sogar noch länger – aus ihrer Zeit in Berlin, wo sie an der Freien Universität und Technischen Universität tätig waren. Seiffert wurde dann 2016 an die JGU berufen, von Klitzing hat seit 2017 eine Professur in Darmstadt inne. In Berlin war sie bereits Programmdirektorin des dortigen erfolgreichen Studiengangs "Polymer Science". "Davon haben wir durchaus lernen können", so von Klitzing.
Mit dem klaren Fokus auf weiche Materie ist der internationale Masterstudiengang im Rahmen des RMU-Verbunds jedoch weltweit eines der ersten Angebote seiner Art. Gemeinsam stellen von Klitzing und Seiffert jetzt im Gespräch mit dem JGU-Magazin das große Potenzial des Forschungsbereichs vor.
Was ist "soft matter"?
Aber was genau ist eigentlich "weiche Materie", fragen sich Laien, wenn sie zum ersten Mal mit dem Begriff konfrontiert werden. "Es handelt sich um eine sehr breite Materialklasse", erklärt von Klitzing. Aus physikalischer Sicht ist "soft matter" mit ihren schwach aneinandergebundenen Bestandteilen tatsächlich weich und gibt leicht nach. Viele Polymere gehören dazu, amphiphile Materialien wie Seifen und Tenside, aber auch Kolloidmaterialien. Im Alltag begegnet man der weichen Materie ständig. "Auch das Leben selbst basiert auf soft matter", ergänzt Seiffert. "Leben ist nicht erfolgreich, weil es perfekt, sondern weil es defekttolerant ist", erklärt der Chemiker. "Es gibt mannigfaltige Mechanismen, um Defekte zu reparieren, dazu braucht es aber reversible Strukturen. Und genau diese Fähigkeit zu Multiplikation und Reparatur gehört zu den Stärken von weicher Materie."
Zum Zukunftsthema wird weiche Materie derzeit insbesondere im Bereich der Biomedizin und bei Clean-Tech-Anwendungen für die Transformation hin zu klimaneutralen Prozessen. "Soft matter ist stark in der Entwicklung von Materialien für die personalisierte Medizin beteiligt", so Seiffert. "Ohne sie wäre auch die Stabilisierung von mRNA für Impfstoffe gegen das Coronavirus nicht so schnell möglich gewesen." Die Eigenschaften der Materialklasse lassen sich auch für die gezielte Freisetzung von Wirkstoffen nutzen. So kann soft matter beispielsweise auf den Temperaturunterschied zwischen gesundem Gewebe und entzündetem Gewebe reagieren oder auf verschiedene pH-Werte von gesundem Gewebe und Tumorgewebe. Im Bereich von Clean-Tech kommt weiche Materie beispielsweise bei der Entwicklung von Membranen für Brennstoffzellen oder Hydrogelen für neuartige, dezentrale Entsalzungsanlagen zum Einsatz.
Wie Theorie und Experiment ineinandergreifen
Der Masterstudiengang "Soft Matter und Materials" beginnt mit einem Wintersemester in Mainz oder einem Sommersemester in Darmstadt. Daran schließen sich ein Vertiefungs- und Forschungssemester sowie schließlich das Erstellen der Masterarbeit an. "Die Kooperation beider Hochschulen und des Max-Planck-Instituts für Polymerforschung macht einen ausgesprochen interdisziplinären Ansatz des Studiengangs möglich", betont Prof. Dr. Regine von Klitzing. Die Darmstädter Professorin kennt die JGU noch aus der Zeit ihrer Promotion Mitte der 1990er-Jahre und hat den Kontakt nach Mainz stets gehalten. Neben Chemie und Physik sind beispielsweise auch Materialwissenschaften und Mathematik in den Studiengang eingebunden. Beide Universitäten bringen ihre tradierten Kompetenzen in den Polymerwissenschaften ein: bei der JGU mit der Schnittstelle zu den Lebenswissenschaften und bei der TU Darmstadt zur Ingenieurwissenschaft beispielsweise in der Technischen Chemie. Grundsätzlich gilt, dass sich Theorie und Experiment gegenseitig befruchten.
Neben der interdisziplinären und hochschulübergreifenden Ausrichtung des Masterstudiengangs spielt auch die Internationalisierung eine wichtige Rolle für "Soft Matter and Materials". Das spiegelt sich im konsequent englischsprachigen Unterrichtsprogramm. "Dafür mussten einige Lehrveranstaltungen den Sprung ins Englische machen", erinnert sich Seiffert. "Das hat aber hervorragend funktioniert." Dass sich der Ansatz bewährt, zeigt auch die Herkunft der Studierenden: Im ersten Jahr des neuen Masterstudiengangs kamen sie alle aus nicht-deutschsprachigen Ländern – aus dem EU-Ausland über den indischen Subkontinent bis aus Fernost.
Wer den internationalen Masterstudiengang in Mainz und Darmstadt belegt, qualifiziert sich nicht nur fachlich genau zur richtigen Zeit mit dem richtigen Thema – sondern auch am richtigen Ort. Darin sind sich Regine von Klitzing und Sebastian Seiffert einig. "Wir sind in der Rhein-Main-Region umringt von Spitzenunternehmen, die auch im Bereich soft matter aktiv sind", so Seiffert. "Wir streben dementsprechend auch Kooperationen mit diesen Unternehmen an." Auch von Klitzing unterstreicht, dass sich vom Masterstudiengang gut Brücken hin zur Industrie bauen lassen: "Das bietet dem akademischen Nachwuchs wichtige Chancen für den Start in den Beruf."
Text: Peter Thomas