Kursivschrift der Pharaonenzeit digital erschließen

28. Januar 2019

Mit dem Langzeitvorhaben "Altägyptische Kursivschriften: Digitale Paläographie und systematische Analyse des Hieratischen und der Kursivhieroglyphen" füllen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) und der TU Darmstadt eine Lücke in der Forschung: Erstmals erschließen sie die Kursivschriften der Pharaonenzeit digital, um sie anschließend umfassend zu untersuchen.

Eine Zickzacklinie steht für Wasser und für den Lautwert "n". Sie ist recht häufig auf den Monumenten des Alten Ägypten zu sehen, als Teil jener berühmten Inschriften, die einer breiten Öffentlichkeit als Hieroglyphen bekannt sind. Hier tummeln sich Tier- und Menschenfiguren neben Abbildern von Pflanzen, Werkzeugen oder anderen Alltagsgegenständen. Aber es finden sich auch abstraktere Zeichen wie Kartuschen, die Pharaonennamen rahmen, oder drei Striche, die einen Plural andeuten.

"Es ist ein Schriftsystem, das über 4.000 Jahre hinweg hervorragend funktioniert hat", erklärt Prof. Dr. Ursula Verhoeven-van Elsbergen. Immer wieder werden die Hieroglyphen fälschlich als Bilderschrift bezeichnet. Die Ägyptologin vom Institut für Altertumswissenschaften der JGU stellt das mit einer knappen Erklärung richtig: "Vereinfacht gesagt handelt es sich um eine Kombination von Laut- und Deutzeichen." Auch sind die Hieroglyphen nicht die einzige Schrift, die im Alten Ägypten entwickelt wurde – im Gegenteil: Vor allem in Stein gemeißelt schmücken sie zwar Tempel oder Gräber, doch daneben wurden zwei weitere Schriftarten, das Hieratische und in späterer Zeit das Demotische, entschieden häufiger verwendet.

Ägyptologie trifft auf Computerphilologie

Verhoeven-van Elsbergen zieht einen Vergleich: "Wir kennen Druckschrift, Handschrift und Stenographie. In einem ähnlichen Verhältnis stehen die altägyptischen Schriftarten zueinander." Die griechischen Bezeichnungen, die für sie gebräuchlich sind, wirken verwirrend: Die Hieroglyphen ("heilige gemeißelte Zeichen") dienten vor allem repräsentativen Zwecken, kommen aber auch auf Papyrus vor, das Hieratische ("priesterliche" Schrift) war zunächst die Handschrift für Manuskripte aller Art, wurde aber zur Zeit der Griechen in erster Linie von Priestern verwendet, nachdem sich das Demotische ("zum Volk Gehörige") als noch kürzere Schrift entwickelt hatte. "Die Schriftarten bestanden lange nebeneinander, waren tatsächlich multifunktional und sind eng miteinander verflochten."

Das 2015 von der Union der Deutschen Akademien der Wissenschaften bewilligte Langzeitvorhaben "Altägyptische Kursivschriften: Digitale Paläographie und systematische Analyse des Hieratischen und der Kursivhieroglyphen" (AKU) beschäftigt sich vor allem mit dem Hieratischen. In dem Akademieprojekt unter Leitung von Verhoeven-van Elsbergen kooperieren das Institut für Altertumswissenschaften – Ägyptologie der JGU, das Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft – Computerphilologie der TU Darmstadt und die Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz eng miteinander. Die zentrale Arbeitsstelle ist wegen der nur dort vorhandenen ägyptologischen Bibliothek an der JGU angesiedelt.

"Das Projekt hat zwei große Aufgaben: Zuerst wollen wir eine digitale Paläographie erstellen, eine Datenbank mit ausgewählten Beispielen aller hieratischen Schriftzeichen. Dann werden wir das Hieratische systematisch erforschen. Wir wollen untersuchen, wie es sich über die Jahrtausende entwickelte. Wir werden verschiedenste Aspekte einbeziehen, etwa das Schreibmaterial und den Schreibprozess, das Layout von Manuskripten, regionale Ausprägungen oder die Identifikation individueller Schreiberpersonen."

Das Langzeitvorhaben ist auf 23 Jahre ausgelegt, jährlich stehen rund 265.000 Euro zur Verfügung. Regelmäßige Evaluationen entscheiden über den Fortgang. "Die erste haben wir erfolgreich durchlaufen", sagt Verhoeven-van Elsbergen, "momentan steht die Bewilligung bis 2022."

Aufwendige Datenbank für hieratische Zeichen

1909 bis 1912 veröffentlichte Georg Möller sein mehrbändiges Standardwerk zur "Hieratischen Paläographie". Danach erschienen nur noch Einzeluntersuchungen. Eine umfassende neuere Paläographie fehlt, obwohl die Fachleute mittlerweile über entschieden mehr Quellen verfügen als Möller damals: Er bezog sich auf gerade mal 32 Schriftquellen für eine Spanne von 2.700 Jahren. Verhoeven-van Elsbergen und ihr interdisziplinäres AKU-Team wollen diese Lücke schließen.

"Wir haben uns entschlossen, eine digitale Paläographie zu erstellen, die mit neuen Erkenntnissen ständig wachsen kann und in die sich Kolleginnen und Kollegen aus der ganzen Welt einbringen können", erzählt Svenja A. Gülden, Arbeitsstellenleiterin des Projekts. "Diese zu konzipieren und zu realisieren, ist eine sehr aufwendige Angelegenheit. Wir brauchten die ersten drei Jahre dafür. Nun sind wir so weit fertig. Wir denken, dass wir die Datenbank in zwei Jahren öffentlich zugänglich machen können."

Das Hieratische fußt auf dem Zeicheninventar der Hieroglyphen, jedoch bemühten sich die Schreiber, die einzelnen Zeichen zu vereinfachen. So wurde aus jener Zickzacklinie für Wasser ein gerader Strich – der ließ sich schneller notieren. In der Datenbank nun sollen all diese Zeichen als Vektor- und Rastergrafiken aufgeführt werden, inklusive verschiedenster Modifikationen.

"Uns war es wichtig, dass auch in 30 Jahren noch jeder unser Datenformat lesen kann", erklärt Tobias Konrad, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Darmstadt. "Wir mussten also gewisse Regeln einhalten, damit unser Material über lange Zeit archivierbar bleibt." Nicht nur das: Die Datenbank soll ermöglichen, dass nach jedem Zeichen gesucht werden kann, dass Quellen verglichen und Varianten identifiziert werden können. "Schon die Zeichenbeschreibung ist eine Herausforderung, weil wir dafür Begriffe finden müssen, die nicht allzu subjektiv sind", sagt Konrad. "Diese Begriffe hinterlegen wir dann in einem Thesaurus." Selbst Ausschnitte von Zeichen sollen so identifizierbar sein, etwa Beine von Tieren, Flügel oder Schnäbel.

Internationale Zusammenarbeit und Nachwuchsförderung

"Es gibt schon andere Forschungsvorhaben, die sich mit altägyptischen Quellen beschäftigen", räumt Simone Gerhards, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der JGU, ein. "Aber die sind mehr textorientiert. Wir beschäftigen uns als einzige intensiv mit der Schrift als solcher. Dafür müssen spezifische Tools entwickelt werden." Institutionen aus aller Welt melden mittlerweile Interesse an. "Das Metropolitan Museum in New York hat zum Beispiel angefragt. Es will sich mit unseren Methoden vertraut machen."

Internationalität, aber auch Nachwuchsförderung spielen bei AKU eine große Rolle. Eine wissenschaftliche Mitarbeiterin des Projekts an der JGU, Kyra van der Moezel, promovierte im niederländischen Leiden. "Im Februar erwarten wir einen PostDoc aus Ägypten", erzählt Verhoeven-van Elsbergen. Zudem sind Studierende in die Arbeiten des AKU-Projekts involviert, und auch in der Lehre hinterlässt das Projekt Spuren: Das Team sucht nach didaktischen Kniffen, wie sich das Hieratische im Zuge des Studiums besser vermitteln lässt. Dafür gibt es bisher keine Strategien, es existiert nicht einmal ein Lehrbuch.

Das Langzeitvorhaben steht noch am Anfang, doch mit der Datenbank ist es nun auf eine feste Basis gestellt. Über die digitale Paläographie eröffnen sich der Forschung neue Möglichkeiten, die in den kommenden Jahren ausgeschöpft werden sollen. Epoche für Epoche wird das Hieratische unter die Lupe genommen. "Wir werden uns mit verschiedensten Fragen beschäftigen", verspricht Gülden abschließend. "Hieratisch wurde zum Beispiel auf ganz unterschiedliche Materialien geschrieben. Wir finden es auf Papyrus, Leinen, Ton- und Steinscherben sowie Holz, aber auch an Wänden. Welchen Einfluss hat das auf die Zeichenformen oder auf den Schreibstil?" Bis 2038 soll AKU laufen. Da werden sich noch einige Antworten finden lassen.