29. Mai 2024
Die Forschung an Embryonen ist in Deutschland verboten, zugleich aber importiert das Land wissenschaftliche Erkenntnisse auf diesem Gebiet. Die Medizinethikerin Prof. Dr. Bettina Schöne-Seifert, Inhaberin der 24. Johannes Gutenberg-Stiftungsprofessur, beschäftigte sich im fünften Teil ihrer Vorlesungsreihe "Ethische Fragen in der modernen Medizin" mit dieser widersprüchlichen Situation.
Von der Forschung mit embryonalen Stammzellen könnte die gesamte Schwangerschaftsmedizin profitieren, unter anderem könnten Augenheilkunde, Immunologie, Nervenheilkunde ein gutes Stück vorangebracht werden. "International gesehen ist die Embryonenforschung ein boomendes Forschungsfeld", konstatiert Prof. Dr. Bettina Schöne-Seifert. Immer mehr Fachleute tummeln sich auf diesem Gebiet – im Ausland. "In Deutschland verbietet seit 1990 das Gesetz jede Handhabung an Embryonen, wenn der Erkenntnisgewinn diesen selbst keinen Nutzen bringt." Allerdings nutzt Deutschland das im Ausland gewonnene Wissen.
Diesem Sachverhalt und seinen Folgen widmet die Medizinethikerin Schöne-Seifert den fünften Teil ihrer Vorlesungsreihe "Ethische Fragen in der modernen Medizin: Zehn strittige Themen". Als 24. Inhaberin der Johannes Gutenberg-Stiftungsprofessur ist sie im Sommersemester 2024 an der JGU zu Gast. Im RW 1, dem größten Hörsaal auf dem Campus, sprach sie bereits über Demenz und Organspende, Keimbahn-Eingriffe und "Enhancement". Nun nimmt sie unter dem Titel "Deutschland als Trittbrettfahrer?" die Embryonenforschung in den Blick.
Alleskönner für Wissenschaft und Therapie
Als Medizinerin und Philosophin beschäftigt sich Schöne-Seifert seit langem mit solchen und ähnlichen Fragen. Sie war Mitglied des Nationalen und des Deutschen Ethikrats. Aktuell ist die Seniorprofessorin der Universität Münster im International Bioethics Committee der UNESCO aktiv. Ihrem Mainzer Publikum versichert sie an diesem Abend: "Ich stehe hier nicht als Besserwisserin, sondern als Diskussionsmanager. Es ist nicht so, dass ich Sie von einer bestimmten Position überzeugen möchte." Zugleich aber warnt sie auch: "Vielleicht empfinden Sie das, was ich hier vertrete, als moralische Zumutung."
Schöne-Seifert zitiert Prof. Dr. Hartmut Kress, Mitglied der Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz. Der evangelische Theologe stellte fest, dass viele Länder mittlerweile Embryonenforschung akzeptieren, einige sogar die Erzeugung der Embryonen zu Forschungszwecken erlauben, und meinte: "Von den wissenschaftlichen Ergebnissen des Auslands profitiert das deutsche Gesundheitswesen sowie die Patient*innen in Deutschland."
Die Diskussion um Embryonenforschung begann vor 25 Jahren. "Sie fokussierte sich vor allem auf Stammzellengewinnung", erklärt Schöne-Seifert. Stammzellen sind die Vorläuferzellen, aus denen sich später alle anderen Zellen entwickeln. "Diese absoluten Alleskönner in Embryonen lassen sich in Kulturen praktisch endlos vermehren.“ Das geschieht sehr früh in der embryonalen Entwicklung. Die Medizinethikerin redet von Zellgebilden, die gerade mal 0,2 Millimeter durchmessen. "Sie finden Platz auf einer Nadelspitze." Stammzellen können helfen, frühe Entwicklungen zu erforschen, sie können helfen, früh entstehende Krankheiten zu verstehen und zu therapieren. Parkinson ist hier ein vielversprechendes Gebiet, ein weiteres die Präimplantationsdiagnostik.
2002 wurde in Deutschland ein Gesetz verabschiedet, das zumindest ein kleines Schlupfloch öffnet, embryonenbasierte Stammzellen für die Forschung zu nutzen: "Stammzellen dürfen importiert werden, aber unter strengen Auflagen. Es muss sich um Zellen handeln, die vor einem bestimmten Stichtag entstanden sind." So soll sichergestellt werden, dass im Ausland keine Zellen ausdrücklich auf deutsche Bestellung hergestellt werden. Außerdem wird jedes entsprechende Forschungsvorhaben von einer Kommission begutachtet – um die 15 Projekte sind es laut Schöne-Seifert im Jahr.
Kirchlich geprägtes Gesetz
"Die aktuelle Embryonenforschung ist dadurch noch aufregender geworden, dass man inzwischen aus anderen Zellsorten Embryonen-Modelle herstellen kann." Keim- und Eizelle sind also nicht mehr nötig. Embryonen-Modelle ähneln in gewisser Hinsicht Embryonen, können sich aber nicht wie diese weiterentwickeln.
Was spricht für Embryonenforschung in Deutschland? Schöne-Seifert nennt zuerst den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn, dann den erhöhten Anwendungsnutzen. "Die Forschung ist auf einem holprigen, aber doch erfolgreichen Weg." Sie führt den Aspekt der Wissenschaftsfreiheit ins Feld und stellt ein Ende der im Moment grassierenden fachspezifischen Doppelmoral in Aussicht: Die bereits angesprochene Trittbrettfahrerproblematik wäre mit einer Zulassung vom Tisch.
Die Gegner*innen der Embryonenforschung stellen ein Gegenargument ins Zentrum: den Embryonenschutz. Schöne-Seifert zitiert wiederum den Theologen Kress, der bedauerte, dass zum Umgang mit Embryonen geradezu "kulturkampfähnliche Diskussionen" stattgefunden hätten. Der Staat habe dann eine Gesetzesauffassung vertreten, die vor allem von den Kirchen geprägt gewesen sei. Gerade die katholische Kirche jedoch entwickelte ihre strikte Haltung zum Embryonenschutz erst im späten 19. Jahrhundert: "1869 wurde die so genannte Simultanbelebung zum Dogma gemacht", erklärt Schöne-Seifert. "Das steht aber nirgends in der Bibel."
Laut katholischer Kirche muss ein Embryo von Beginn an geschützt werden. Schöne-Seifert fragt: "Sind menschliche Embryonen Wesen, denen wir etwas schulden?" Sie geht die embryonale Entwicklung durch: von der Einnistung über den kleinen Zellhaufen bis zur Entstehung des Fötus in der zwölften Schwangerschaftswoche, vom Einsetzen der Empfindungsfähigkeit bis zur Lebensfähigkeit. Ein Argument für den radikalen Embryonenschutz lautet, dass es keine Einschnitte in dieser Entwicklung gibt, von der Zeugung bis zur Geburt sei alles ein kontinuierlicher Prozess. "Kritiker sagen: Es gibt viele Einschnitte", kontert Schöner-Seifert. "Auch wenn wir nicht auf den Tag genau angeben können, wann die Empfindungsfähigkeit einsetzt: Wir können auf Nummer sicher gehen."
Embryonenforschung in Deutschland
Schöne-Seifert erinnert noch einmal daran: "Mittlerweile können wir aus jeder Körperzelle eine embryonale Zelle machen." Beim Embryonen-Modell sei das Argument vom Potenzial zur Entwicklung zum Menschen sowieso vom Tisch. Abgesehen davon ist für sie klar: Was vor der Empfindungsfähigkeit eines Embryonen passiert, ist anders zu beurteilen, als alles, was danach geschieht. Dies habe eine Rolle bei der Diskussion um Abtreibung gespielt, und dies sollte auch hier eine Rolle spielen. Zudem entstünden durch ein Embryonenforschungsverbot moralische Kosten durch all die verpassten Chancen, Menschen durch neu gewonnene wissenschaftliche Erkenntnisse zu helfen. "Wir sollten Regelungen anstreben, die dem ethischen Pluralismus pragmatisch Rechnung tragen", meint Schöne-Seifert. Mit der Forderung "Wir brauchen eine Diskussion!" beendet sie ihren Vortrag.
Für das anschließende Gespräch hatte sie den Biochemiker und Wissenschaftsjournalisten Volkart Wildermuth als Gast eingeladen. Ihm gegenüber führt sie noch einmal aus, was ihr vorschwebt. "Wenn es Menschen gibt, die sich einfach durch Argumente nicht beeinflussen lassen, wie sollen wir damit umgehen?", hakt Wildermuth nach. "Ich glaube, dass man solche Fragen privatisieren sollte", so Schöne-Seifert." Niemand solle dazu gezwungen werden, mit Embryonen zu arbeiten oder Embryonen zur Verfügung zu stellen. Aber beides sollte möglich und rechtens sein – auch in Deutschland.
Text: Gerd Blase