8. Juli 2025
In Nepal steht die Shilpee Theatre Group seit beinahe zwei Jahrzehnten auf der Bühne, nun kommt sie mit einem ganz besonderen Stück nach Mainz. In "Lost and Found" beleuchtet die Theatergruppe, welchen Herausforderungen sich nepalesische Frauen in ihrem Heimatland stellen müssen.
Philipp Neuweilers Smartphone öffnet an diesem Sommertag ein Fenster, das weit in die Ferne reicht: Yubaraj Ghimire meldet sich aus der gut 6.500 Kilometer entfernten Hauptstadt Nepals. Hier, in Kathmandu, gründete Ghimire 2007 die Shilpee Theatre Group, im Jahr 2013 errichtete die Truppe ihr Blackbox-Theater inmitten der Metropole am Fuße des Himalaya. Von dort telefoniert Ghimire nun, immer mal wieder kurz unterbrochen von jemandem, der eine dringende Frage hat. Schließlich steht auch an diesem Abend wieder eine Aufführung auf dem Programm und der künstlerische Leiter des Shilpee hat noch einiges zu tun.

Die Begrüßung ist sehr herzlich: "Philipp, schön Dich zu sehen. Wie geht es Dir? Wir haben unser Theater renoviert. Wollt ihr es euch anschauen?" Ghimire wartet nicht lange auf eine Antwort, er bietet eine schnelle Führung per Handy an. Das Bild wackelt etwas, während er Treppen hinauf- und hinuntersteigt. Ein Café ist zu sehen, ein Büro mit mehreren Arbeitsplätzen, eine Art Kantine neben Unterkünften für Schauspieler*innen – und dann der Theaterraum selbst: Eine große Blackbox mit moderner Ausstattung. Sie bietet Platz für 200 Gäste.
Nepalesisch-deutsche Freundschaft
"Das ist ja wunderschön geworden", zeigt sich Neuweiler begeistert. Er kennt das Gebäude sehr gut, denn 2023 erfüllte er sich mit seiner ersten Nepalreise einen Lebenstraum. "Gleich an meinem allerersten Abend in Kathmandu entdeckte ich durch Zufall das Theater. Ich fühlte mich wie zu Hause angekommen." Eine tiefe Freundschaft entwickelte sich.

Neuweiler betreut als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Journalistischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) unter anderem das Kreative Medienlabor, zudem ist er bereits mit mehreren Hörspiel- und Theaterproduktionen in Erscheinung getreten. In Nepal konnten Ghimire und er Erfahrungen austauschen. Ein Jahr später war Neuweiler ein zweites Mal zu Besuch. Diesmal bot er Workshops zu Dramaturgie und Hörspielen an. "Unsere Studierenden hier in Mainz legen Wert auf Praxisbezug, mit Theorie kann man sie schnell langweilen. Am Shilpee ist das genau umgekehrt: Dort gieren sie nach Theorie, denn Praxiserfahrung haben sie bereits reichlich gesammelt."
Ghimire kam auf die Idee, mit seiner Theatertruppe nach Deutschland zu reisen, wenn möglich gar durch Europa zu touren. "Es ist wichtig, dass wir Erfahrungen sammeln", meint er. "In Nepal gibt es keine formale Theaterausbildung. Einige unserer Schauspieler*innen gingen also ins Ausland, um dort zu lernen." Acht von ihnen reisen nun an, um in Freiburg, Köln, Frankfurt, Wiesbaden und Mainz ihre Kunst zu präsentieren: Auf dem Gutenberg-Campus zeigt Shilpee das Stück "Lost and Found", zudem lädt Ghimire zu einem Theaterworkshop ein.
"Die Truppe nimmt Schulden auf, um sich die Tour leisten zu können", berichtet Neuweiler. "Allein durch die Flüge haben sie bereits ein Minus von 4.000 Euro. Das ist für sie eine Riesensumme." Dennoch sollen die Eintritte in Mainz zu den Aufführungen kostenfrei bleiben, um allen Interessierten den Zugang zu interkulturellem Austausch zu ermöglichen. "Wir setzen vor allem auf Spenden, lokale Förderungen und ehrenamtliches Engagement."
Hauptstadttheater geht aufs Land
"In Nepal hat das moderne Theater keine lange Tradition", erzählt Ghimire. "Während der Monarchie stand eher Shakespeare auf dem Programm, zudem orientierte man sich am großen Nachbarn Indien. Theater war vor allem eine Sache der herrschenden Schicht. Vor 1990 herrschte außerdem eine strenge Zensur. Es war eine schreckliche Zeit für das Theater und für die Menschen." Erst danach konnte sich allmählich eine originär nepalesische Theaterszene entwickeln.
Ghimire studierte Schauspiel in Kopenhagen. Im Jahr 2001 gehörte er zu einem engagierten Kreis, der ein festes Theaterangebot in Kathmandu aufbauen wollte. Allerdings gab es Meinungsverschiedenheiten, was die Inhalte anging. Ghimire wollte ein politisches Theater, seine Kunst sollte auf soziale Missstände aufmerksam machen. So gründete er schließlich Shilpee und dafür steht die Truppe bis heute: 17 Personen arbeiten Vollzeit, neun Künstler*innen leben im hauseigenen Wohnheim, jeden Abend steht eine Vorstellung auf dem Programm. Staatliche Unterstützung gibt es nicht, Shilpee finanziert sich selbst – und wächst: Jüngst ist im Südosten des Landes ein Amphitheater mit 500 Sitzplätzen entstanden.
"Die Theatertruppe spielt längst nicht nur in Kathmandu, sie reist durchs Land", so Neuweiler. "Die Schauspieler*innen besuchen Dörfer und zeigen dort Stücke zu aktuellen gesellschaftlichen Fragen. An einem Punkt unterbrechen sie die Aufführung und fragen die Zuschauer*innen, was ihnen dazu einfällt. Wie sollen die Figuren sich zu einem dargestellten, gesellschaftlichen Problem verhalten? Wie soll es weitergehen?" Das Feedback verändert den Verlauf des Stücks. Die Shilpee Theatre Group improvisiert und möchte darüber zugleich soziale Veränderungen anregen.

Mythos trifft auf Gegenwart
Doch dies ist nur eine Facette ihrer Kunst. In Mainz wird das Publikum am 20. Juli eine ganz andere Art Theater erleben: "Lost and Found" stammt aus der Feder Ghimires. Das Stück nimmt einen sozialen Missstand in den Blick, der viele nepalesische Frauen betrifft: Sie müssen einen nepalesischen Vater nachweisen. Können sie das nicht, gelten sie als staatenlos. Ghimires Stück verbindet die Gegenwart mit der mythisch-historischen Vergangenheit: Die 25-jährige Bhumi schlägt sich als alleinerziehende Mutter und Touristenführerin durchs Leben. Ihr Vater ist unbekannt, die Staatsbürgerschaft bleibt ihr also verwehrt. Sie trifft auf Sagar, 48, der in Nepal geboren wurde, ins Ausland ging und nun als Tourist zurückkehrt. Die beiden treffen im Palast des Religionsstifters Gautama Buddha aufeinander und es beginnt eine Geschichte, in der sich ihr Schicksal mit der Überlieferung des Gautama verwebt.
Shilpee möchte mit "Lost and Found" zum kulturellen Austausch einladen. "Wir sind neugierig, wie das Publikum in Deutschland auf unser Stück reagiert", meint Ghimire. "Solche interkulturellen Begegnungen sind uns wichtig, wir sehen sie als Bereicherung für beide Seiten."
Das Bild auf dem Smartphone verblasst. Die Verbindung ist unterbrochen. "In Nepal gibt es immer wieder Blackouts", erklärt Neuweiler. "Wenn das jetzt einer ist, dauert es länger." Doch dann taucht Ghimire schon wieder auf: Ja, er freue sich auf Deutschland, sagt er, auf die Universität in Mainz, auf die Menschen – und auf den Freund, der sich so sehr darum gekümmert hat, diese Auftritte von Shilpee zu ermöglichen. "Wir sind sehr gespannt."
Text: Gerd Blase