20. Mai 2018
In seiner Vorlesungsreihe "Das politische Denken. Politische Ideengeschichte und die großen Herausforderungen unserer Gegenwart in zehn Erkundungsschritten" wandte sich Gutenberg-Stiftungsprofessor Prof. Dr. Herfried Münkler der Nation zu. Der Politikwissenschaftler führte zu ihren Wurzeln und zu ihren Problemen, die im Ersten Weltkrieg gipfelten.
"Ich möchte mich heute mal wieder mehr mit Kleinteiligem beschäftigen", kündigt Prof. Dr. Herfried Münkler seinem Publikum im größten Hörsaal auf dem Campus der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) an. "Ich möchte klären, wie der schwierige Begriff der Nation entstanden ist."
Bereits im zweiten Teil seiner Vorlesungsreihe "Das politische Denken. Politische Ideengeschichte und die großen Herausforderungen unserer Gegenwart in zehn Erkundungsschritten" hatte sich der 19. Inhaber der Johannes Gutenberg-Stiftungsprofessur mit dem Nationalstaat beschäftigt und erklärt, dass hier zwei sehr unterschiedliche Ordnungsbegriffe aufeinandertreffen. "Nationalstaat ist ein Kompositum, das wir etwas leichtfertig gebrauchen, ohne uns Gedanken zu machen, was da komponiert ist", kritisierte er. Nun kehrt Münkler darauf zurück und beleuchtet diesen Themenkomplex aus einem neuen Blickwinkel. Entsprechend ist der vierte Vortrag seiner Reihe mit dem Thema "Die Idee der Nation und deren überaus ambivalente Folgen: Heroische Opferbereitschaft und/oder solidarischer Zusammenhalt" überschrieben.
Gesellschaft und Gemeinschaft
"Der Nationalstaat ist die wahrscheinlich effektivste Ordnung, die wir kennen", konstatiert der Politologe. "Aber wie das nun mal so ist: Effektiv muss nicht immer ein Vergnügen sein." Im Nationalstaat vereinen sich eine leistungsfähige Administration mit einem hohen Maß an Identifikation. Das erwies sich als Erfolgsrezept.
Was aber ist diese Nation? "Max Weber definiert Nation als eine den Raum und die Zeit übergreifende Gemeinschaft", erklärt Münkler. "Das sind drei zu klärende Begriffe: Raum, Zeit und Gemeinschaft." Gemeinschaft setzt der Stiftungsprofessor in Kontrast zu Gesellschaft. Eine Gesellschaft ist gesichert durch Mechanismen, die miteinander funktionieren. Jeder kann seine eigenen Interessen verfolgen und die müssen nicht unbedingt gut sein – im Gegenteil. Münkler bringt den Sozialethiker Bernard Mandeville ins Spiel, der 1714 in "The Fable of the Bees" meinte, dass es der Gesellschaft schade, wenn alle Menschen gut und sittsam wären. Es würde schlichtweg zu Arbeitslosigkeit führen: Die Polizei etwa werde überflüssig, gewisse Krankheiten tauchten nicht auf, das Gesundheitssystem könnte sich verschlanken.
Die Gemeinschaft dagegen lebt davon, dass sich Menschen gut verhalten, was auch immer sie als gut definieren. "Sie gründet auf Opferbereitschaft und Solidarität." In diesem Sinn ist laut Münkler die Nation eine "Gemeinschaftsimagination", die sagt: "Wir gehören doch zusammen."
Imaginierte Nation
"Gemeinschaft vermittelt Geborgenheit, was Gesellschaften nicht tun." Wenn Gemeinschaften über den Kreis der Familie oder die engere Herkunftsregion hinauswachsen, wenn sie sich gar zur Nation ausdehnen, müssen sie immer imaginiert werden. "Den Raum erfasst dabei die Geografie. Sie schreibt Zugehörigkeiten in größere Räume ein und zeichnet Karten." Deswegen sei die Erdkunde ein wichtiges Mittel, die imaginierte Gemeinschaft in die Köpfe zu bringen.
"Nation ist ein Vektor im Modernisierungsprozess", sagt Münkler. "Sie verleiht dem Zugehörigkeitsbegriff eine neue Reichweite." Durch Migration und Urbanisierung verlieren mehr und mehr Menschen ihre Heimat, aber die Nation gibt sie ihnen im größeren Rahmen zurück. Herkömmliche Solidaritäten lösen sich auf, dafür werden neue geschaffen. Dabei bleibt die Nation willkürlich und zufällig. "Warum soll es dieses Deutschland sein, warum nicht Europa, warum nicht kleiner?"
"Das Arbiträre ist ein Problem bei diesem Vorgang", meint der Stiftungsprofessor. Deswegen mühen sich jene, die eine Nation propagieren, um deren Naturalisierung. Sie erzählen eine Geschichte, führen die Nation etwa auf die alten Germanen zurück und verleihen so dem Willkürlichen Sinn. So tritt zum Raum die Zeit und zur Geografie die Geschichte. "Beide vermitteln die Imagination als Realität – als eine Realität allerdings, die ständig umkämpft werden muss und vom Individuum Einsatz verlangt."
Der Staat kann existieren, bevor sich seine Beschreiber einen Begriff davon gemacht haben. Bei der Nation ist es anders. "Die Nation muss erst gedacht werden, damit sie in die Wirklichkeit eintreten kann." Den Staat halten Diplomaten, Juristen und ihresgleichen am Funktionieren, die Nation wird in den Köpfen von Intellektuellen und Schriftstellern geboren. Sie schaffen Sinn und politische Mythen.
Buchdruck mit Nebenwirkungen
Der Begriff "Nationes" taucht im Spätmittelalter auf. Er wird in supranationalen Organisationen, also an Universitäten, Handelshöfen oder in Ritterorden geläufig. Dort teilen die Führungspersönlichkeiten die jeweiligen Mitglieder mehr oder weniger willkürlich in Nationes auf. "Leute verlassen die Gemeinschaften, in die sie hineingeboren waren, legen gewaltige Strecken zurück und sind nun Fremde, etwa Studierende in Bologna oder Paris, wo sie zuerst keinen Schutz und keine Rechte haben." Die bekommen sie, wenn sie in die Nationes der Universitäten aufgenommen werden. Dabei kann es durchaus passieren, dass ein Schwabe der Abteilung der Franzosen zugeschlagen wird. Das kommt von oben, er hat keinen Einfluss darauf.
"Jetzt passiert etwas: Die Leute akzeptieren nicht mehr, dass sie einer Nation zugewiesen werden. Sie entwickeln ein Gefühl, welche Nation zu ihnen gehört." Das führt zu Unruhen, zu Schlägereien an den Universitäten.
"Bei diesem Prozess spielt der Buchdruck eine entscheidende Rolle", gibt Münkler zu bedenken. Schriftgut verbreitet sich massenhaft, es ermöglicht Meinungsbildung auf breiter Basis. Immer mehr Menschen können lesen, das Bildungsniveau steigt. Sie supranationalen Institutionen werden gesprengt, weil die Kompetenz einiger weniger der Kompetenz der vielen weicht. "Die Leute fangen an zu widersprechen." Nun übernehmen sie die Definition der Nation. "Sie wird eine Ausschließungsbegrifflichkeit, mit der alle übergreifenden Gemeinsamkeiten negiert werden."
Ende im Krieg
Die Abgrenzung wird schließlich immer schärfer. Ulrich von Hutten wirft Erasmus von Rotterdam vor, dass der sich nicht entscheiden könne, ob er Deutscher oder Franzose sei. Solche Leute sollten gezwungen werden auszuwandern, schreibt er. Alle sollten sehen, was für ein "perverser Typ" Erasmus sei. "Wesentlich wird die Nation nun durch die Herabsetzung eines Anderen konstruiert." Sauberkeit und sexuelle Sitten werden ins Feld geführt: Der andere stinkt und er bringt die Syphilis.
"Der Geist des Ressentiments ist ein wesentliches Element bei der Ausbildung der Nationen", resümiert Münkler. Martin Luther und seine Polemiken spielen hier eine unrühmliche Rolle. Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts ist dann der vorläufige Höhepunkt erreicht: "Der Nationalismus arbeitet jetzt im Modus der Verfeindung, nicht mehr der Herabsetzung." Nun wird Krieg geführt. "Gleichzeitig avanciert der Nationalstaat zum wohl leistungsfähigsten System politischer Ordnung." Am Ende steht der Erste Weltkrieg. Angesichts von Hunderttausenden Kriegsversehrten, die zu versorgen sind, dämmert es den Menschen, dass es ein anderes System braucht: Der Sozialstaat wird geboren.