Ein Plädoyer für die Politikwissenschaft

18. April 2018

Der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Herfried Münkler ist der 19. Inhaber der Johannes Gutenberg-Stiftungsprofessur. Im größten Hörsaal der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) wird er an zehn Abenden über "Das politische Denken. Politische Ideengeschichte und die großen Herausforderungen unserer Gegenwart in zehn Erkundungsschritten" sprechen. In seinem ersten Vortag schlug er einen weiten Bogen von der Philosophie des Aristoteles bis zur Politik der Gegenwart.

Gelobt wurde er im Vorfeld reichlich – sei es nun beim traditionellen Fundraising-Dinner, beim Empfang im Mainzer Rathaus oder gerade eben, direkt vor seinem ersten Auftritt an der JGU. Prof. Dr. Herfried Münkler lächelt und merkt mit trockenem Humor an: "Ich weiß wohl, dass es zum institutionellen Arrangement solcher Veranstaltungen gehört, Erwartungen zu wecken, damit es der Vortragende sich nicht zu einfach macht. Was allerdings zur Folge hat, dass er es auch seinen Hörern nicht einfach macht."

Der Politikwissenschaftler kündigt an, dass er in seinem ersten Vortrag mit dem Titel "Was ist und zu welchem Zweck betreibt man politische Ideengeschichte?" einiges zu den Methoden seiner Arbeit sagen wird. Es gehöre schlicht dazu, dass man erläutere, warum ein Fachgebiet in den Bereich der Wissenschaft gehöre, obwohl es sich doch mit Politik beschäftige. Allerdings sei die Auseinandersetzung damit eine Herausforderung. "Das hat gelegentlich etwas von zähem Tod."

Diabolischer Gesprächspartner

Die Johannes Gutenberg-Stiftungsprofessur wurde im Jahr 2000 vom Verein der Freunde der Universität Mainz ins Leben gerufen. Über dieses besondere Engagement gelingt es, Jahr für Jahr international führende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie prominente Persönlichkeiten an die JGU zu holen, die zu aktuellen Themen Akzente setzen. "Die Stiftungsprofessur wird ausschließlich aus privaten Mitteln finanziert", betont denn auch Prof. Dr. Stephan Jolie, Vizepräsident für Studium und Lehre an der JGU, in seiner Begrüßung. "Die Universität stellt nur ihren größten Hörsaal zur Verfügung und ganz kurz auch mal ihren Präsidenten oder ihre Vizepräsidenten."

Mit Münkler kommt ein streitbarer und hochproduktiver Wissenschaftler auf den Gutenberg-Campus. Jolie weiß zu berichten, dass ein Journalist ihn gar als "diabolischen Gesprächspartner" bezeichnete. Münkler wurde im Laufe seiner akademischen Karriere mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht. Einige seiner Veröffentlichungen gelten längst als Standardwerke. Viel beachtet ist auch sein jüngstes Werk "Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618-1648". Seit 1992 lehrt er an der Humboldt-Universität zu Berlin. In seiner Mainzer Vorlesungsreihe wird es um "Das politische Denken. Politische Ideengeschichte und die großen Herausforderungen unserer Gegenwart in zehn Erkundungsschritten" gehen.

"Die Politikwissenschaft ist in Deutschland eine junge Disziplin", so Münkler. Allerdings habe sie eine lange Tradition, die im Grunde bis auf Aristoteles zurückgehe. Der große griechische Philosoph habe bereits – im Widerspruch zu Platon – Politik deutlich gegen Ethik abgegrenzt. Ein Abgrenzung, die auch Münkler wichtig ist.

Junge Disziplin unter Druck

"Die Politikwissenschaft ist eine Wissenschaft, die im Gegensatz zu den Naturwissenschaften nicht autonom in der Wahl ihrer Gegenstände und Themen ist. Die Forschungsagenda des Fachs wird immer von den großen Fragen der Zeit beeinflusst." Die Politikwissenschaft beobachte die Politik und müsse gleichzeitig in einem kritischen Verhältnis zu ihr stehen, auch wenn sie immer wieder von ihr in Anspruch genommen werde.

"Dieses spät geborene Kind hat sich in den 1940er-Jahren sozusagen hineingedrängt – ist hineingedrängt worden – in den Kontext der Universität." Dort werde es kritisch von den Fachleuten der klassischen Fakultäten beäugt und als Konglomerat aus herkömmlichen Disziplinen wie der Geschichts-, Rechts- oder Sozialwissenschaft betrachtet, aber eben nicht als etwas Eigenes. "Man hat immer das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen."

Noch übler steht es um Münklers Fachgebiet innerhalb dieser jungen, hinterfragten Wissenschaft: Innenpolitik, Vergleichende Politikwissenschaft, Außenpolitik und Internationale Politik seien gefragt. Die Politische Theorie und Ideengeschichte hingegen komme beim Gerangel um Aufmerksamkeit und Geld zunehmend unter die Räder. "Ich bin da eher eine Ausnahme", kommentiert Münkler seine eigene Prominenz und seinen Erfolg auf diesem Feld.

Das Fach für die Krise

Über immer wieder zutreffende Prognosen habe sich im Laufe der Jahrzehnte die Position der beliebteren Politikwissenschaftsbereiche zementiert. "In der letzten Zeit allerdings ist auffällig, wie oft die Vorhersagen zu Wahlen danebengelegen haben." Münkler nennt den Brexit und den Erfolg Donald Trumps als Beispiele. Hier komme die Politische Theorie und Ideengeschichte ins Spiel: "Wir haben einen Blick für den Wandel von Konstellationen. Wir machen Aussagen, die zwar nicht besonders präzise, dafür aber richtungweisend sind. Würde heißen: Wenn alles gut läuft, sind wir nicht gefragt, aber sobald sich Krisen mehren, sind wir dran."

Die Politische Theorie und Ideengeschichte praktiziere eine methodisch differenzierte Selbstreflexion, die bei den anderen Bereichen der Politikwissenschaft nicht zu beobachten sei, meint Münkler. "Das gehört zu ihrem Selbstverständnis." Zudem greife sie auf einen Erfahrungsschatz von 2.500 Jahren zurück. "Die Politische Ideengeschichte bringt Texte mit einer hohen Halbwertszeit hervor, deren Wert sich erst bei kompetenter Nutzung erweist." Dazu gehörten Werke von Aristoteles und Machiavelli, Hobbes und Marx, aber auch Literarisches von Shakespeare oder Schiller.

"Es ist gerade die Geschichte des politischen Denkens, die den Umgang mit Neuem und Erstmaligem, die dessen Identifizierung überhaupt erst ermöglicht." Bei der Beobachtung von Ähnlichkeit und Differenz müsse sich die Politische Theorie und Ideengeschichte weit vorwagen. "Sie lässt sich auf hochriskante Vergleiche ein – und zwar im diachronischen Bereich." Vereinfacht gesagt: Vorgänge und Prozesse der Vergangenheit werden auf die Gegenwart bezogen.

Vom Volk zum Bürger

"Wie gewinnt man ein kluges Bürgertum? Das ist eine Frage, mit der sich mein Gebiet zu befassen hat. Wie transformieren wir das Volk zu kompetenten Bürgern?" Anhaltspunkte könnte die Antike bereithalten, Machiavellis Einsichten könnten helfen – oder die Schrift Étienne de La Boëties "Von der freiwilligen Knechtschaft des Menschen" aus dem 16. Jahrhundert: "Er beschreibt, dass es so etwas wie die Erosion von Engagementbereitschaft in der Bevölkerung gibt", erklärt Münkler. "Die Leute haben keine Lust mehr, sich zu engagieren, wenn Kosten und Ertrag in keinem Verhältnis stehen." Dazu fällt dem Professor ein, dass in Thüringen momentan ein massives Problem besteht, Kandidatinnen und Kandidaten für Kommunalwahlen zu rekrutieren.

In den kommenden neun Erkundungen wird Münkler ausführlicher demonstrieren, was die Politische Theorie und Ideengeschichte zu leisten vermag. "Das ist ein relativ weites Feld, das wir hier zu bestellen haben und zu dessen Bestellung ich Sie einladen möchte", wendet sich der Politologe an sein Publikum in Mainz.