19. Mai 2017
Das autonome Auto ist in greifbare Nähe gerückt, der Mensch am Lenkrad wird bald ausgedient haben. Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Wahlster sprach im dritten Teil seiner Vorlesungsreihe im Rahmen seiner Johannes Gutenberg-Stiftungsprofessur 2017 über "Autonome Systeme: Grundlagen für das selbstfahrende Auto".
"Ich bin überzeugt: In 20 Jahren wird es keine Fahrzeuge mehr geben, die nicht autonom fahren", sagt Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Wahlster. Die menschlichen Autofahrer werden laut dem 18. Inhaber der Johannes Gutenberg-Stiftungsprofessur die absolute Ausnahme sein. Sie werden womöglich nur noch auf extra dafür freigegebenen Strecken ihrem Hobby frönen können. "Die Bauern in der Schweiz erfanden das Skifahren auch nicht zum Spaß, sondern aus Existenzgründen", zieht Wahlster eine Parallele. "Heute jedoch hat Skifahren nur als Sport überlebt." Ganz ähnlich werde es dem Autofahren gehen.
Den dritten Abend seiner Vorlesungsreihe "Künstliche Intelligenz für den Menschen: Digitalisierung mit Verstand" widmet Wahlster den "Autonomen Systemen: Grundlagen für das selbstfahrende Auto". Gleich zu Beginn stellt er klar, wie wichtig dieses Thema für Deutschland ist: "Es ist in der Tat eventuell eine wirtschaftliche Existenzfrage für uns, ob wir unsere Automobilindustrie in dieses neue Zeitalter überführen können."
Software-Updates statt Ölwechsel
Jedes moderne Auto verfügt mittlerweile über Fahrerassistenzsysteme, die Verkehrsschilder lesen, das Einparken erleichtern oder einen Blick in den toten Winkel ermöglichen. "1983 waren wir ganz stolz auf ein Fahrassistenzsystem mit sieben Funktionen", erinnert sich Wahlster, der diese Technologie in vielen Bereichen mitgestaltet hat. "2015 hatte ein Mittelklassewagen bereits 61 solcher Funktionen."
Das Auto werde immer mehr zum fahrenden Computer. "Software-Updates werden in Zukunft öfter vorkommen als der Ölwechsel." Eine Karosserie beherberge mittlerweile mehr als 100 Kleincomputer, mehr als 200 Sensoren und Aktuatoren. Das Auto sei damit zu einer intelligenten Umgebung für den Fahrenden geworden – und der Mensch habe sich längst daran gewöhnt. "Wenn Sie heute sämtliche Sensoren und Aktuatoren ausschalten würden, würden Sie garantiert im Graben landen."
Als Beispiel nennt Wahlster die gebräuchlichen Umgebungssensoren: Das Auto verfügt über Radar, Laserscanner, Kameras und Ultraschall. "Es ist aber nicht nur mit einer starken Sensorik ausgestattet, es tauscht auch Informationen mit anderen aus." Von der reinen Mobilitätsplattform hat es sich zur Sensor- und Kommunikationsplattform gemausert, es ist zudem Service- und Sicherheitsplattform geworden.
Vom Fahrer zum Passagier
Viele Fahrerinnen und Fahrer stöhnten angesichts der Fülle an Angeboten, die ihr Auto bereithält: "Um Gottes Willen, das wird ja immer schlimmer. Ich kriege immer mehr Informationen. Das überfordert mich." Wahlster zeigt Verständnis für diese Klage. Die Antwort der Wissenschaft darauf heißt: Benutzermodellierung. In einem Projekt Wahlsters analysiert das Auto Brems- und Lenkaktionen, Sensoren messen gar den Hautwiderstand des Fahrenden. So erkennt das Auto, wie beschäftigt oder gestresst der Fahrende gerade ist und dosiert danach den Informationsfluss.
Technisch ist es bereits vieles möglich. Autos können sich etwa der Sensorik anderer Autos bedienen. "Wir haben ihnen beigebracht, um die Ecke zu schauen." Über die Kameras eines anderen PKW können sie schon mal schauen, was hinter der Kurve lauert.
"Heute sind wir so weit, dass wir sagen können: Wir können unsere Augen kurzzeitig weglassen beim Fahren. Wo wir hin wollen: Sie können Ihren Kopf abstellen und sind für das Fahrzeug nicht mehr ansprechbar. Sie werden vom Fahrer zum Passagier. Wir wären 2020, 2025 so weit."
Entwicklung längst im Gang
Für Wahlster ist das selbstfahrende Auto kein Sprung hin zu etwas völlig Neuem, sondern vielmehr Teil einer Entwicklung, die längst im Gang ist. Er skizziert fünf Stufen des automatisierten Fahrens: Auf Stufe eins assistiert das Auto dem Fahrenden. Auf Stufe zwei ist vieles bereits teilautomatisiert, der Fahrende muss das System aber dauerhaft überwachen. Auf Stufe drei, der Hochautomatisierung, ist diese dauerhafte Überwachung schon nicht mehr notwendig, der Fahrende muss nur noch in speziellen Situationen eingreifen. Auf dieser Schwelle steht die Forschung und macht sich nun bereit, Stufe vier und fünf zu erklimmen: das vollautomatisierte Fahren und das völlig fahrerlose Fahren.
Zwei Ansätze sollen das selbstfahrende Auto ermöglichen. Zum einen das Deep Learning, das Wahlster bereits mehrfach in seiner Vorlesungsreihe angesprochen hat: Dem Computersystem eines Wagens werden Videobilder von Fahrsituationen eingespeist, dazu Daten von Lenk- und Bremsakten. Auf Grundlage dieser Fülle von Informationen – Wahlster redet von rund 250.000 Parametern – bildet es mehrschichtige neuronale Netzwerke aus. "Es lernt praktisch das, was wir in der Fahrstunde lernen." Als Zweites kommt das Regellernen hinzu, die Theorie gewissermaßen. Beide Systeme zusammengeführt machen das Auto fit fürs autonome Fahren.
Riesige Chance für Autoindustrie
"Wir streben eigentlich an, dass wir viel verlorene Lebenszeit durch das autonome Fahren gewinnen", sagt Wahlster. Der Mensch werde vom Fahren befreit. "Sie können ein gutes Buch lesen, mit Ihrer Partnerin oder Ihrem Partner kommunizieren." Zudem lasse sich der Verkehr viel besser planen und managen. Neben der Zeit werde so auch Energie gespart – und das Fahren werde sicherer.
"Deutschland ist führend bei den technologischen Wegbereitern des autonomen Fahrens", konstatiert Wahlster. "58 Prozent aller Patente weltweit zu autonomem Fahren kommen aus Deutschland." Er ist überzeugt: "Diese Technologie wird nicht nur eine riesige Exportchance für unsere Autoindustrie sein, sie wird sich auch für Züge und Schiffe eignen." Die höchste Hürde ist genommen. "Das Deep Learning war ein ganz wesentlicher Durchbruch. Das wird in zwei Jahren erledigt sein." Das autonome Auto ist also nahe. Der diesjährige Johannes Gutenberg-Stiftungsprofessor freut sich darauf.