26. Mai 2017
Er ist einer der wegweisenden Köpfe hinter dem Zukunftsprojekt Industrie 4.0: Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Wahlster sieht in der vierten Revolution der Industrie eine Riesenchance für Deutschland. Im vierten Teil seiner Vorlesungsreihe "Künstliche Intelligenz für den Menschen: Digitalisierung mit Verstand" erklärte der Inhaber der 18. Johannes Gutenberg-Stiftungsprofessur, wie er sich die Entwicklung in den Fabriken der Zukunft vorstellt.
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Wahlster und Prof. Dr. Dr. Henning Kagermann präsentierten Angela Merkel ihre Vision einer Industrie der Zukunft. Die beiden sprachen von cyber-physischen Systemen, von Smart Factory und Smart Grid. "Da schaute mich die Kanzlerin an und meinte: 'Nee, das kann ich den Wählerinnen und Wählern nicht verkaufen. Das klingt zu akademisch.'" Also machte sich Wahlster auf die Suche nach einem neuen Begriff und entschied sich schließlich für die Bezeichnung Industrie 4.0. "Das haben wir dann der Kanzlerin vorgestellt und sie war begeistert."
Der Inhaber der 18. Johannes Gutenberg-Stiftungsprofessur sieht in der Modernisierung der Industrie hin zu einer Version 4.0 eine große Chance. "Hier geht es um die Zukunft der Produktion in Deutschland", bekräftigt Wahlster. "Es ist ein Thema, das mich seit dem Jahr 2010 umtreibt." Darüber also will er im vierten Teil seiner Vorlesungsreihe "Künstliche Intelligenz für den Menschen: Digitalisierung mit Verstand" auf dem Gutenberg-Campus sprechen. "Industrie 4.0: Das Internet der Dinge kommt in die Fabriken" betitelt der Direktor des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI) seinen Vortrag.
Jenseits des PC-Zeitalters
"Wir sind schon jetzt im Zeitalter jenseits des persönlichen Computers. Wir haben einen Laptop in der Tasche, ein Handy, Computer in der Waschmaschine, in der Spülmaschine und so weiter." Die Menschen begnügen sich nicht mehr mit einem PC, sie sind von einem Geflecht von Computersystemen umgeben – ob zu Hause, im Auto oder am Arbeitsplatz. "Was können wir mit solchen Systemen machen, wenn wir Dinge produzieren wollen?" Die Antwort darauf gibt die Industrie 4.0, das große Zukunftsprojekt von Bundeskanzlerin Angela Merkel.
"Es geht darum, dass man die Fabrik als Netzwerk von kommunizierenden intelligenten Objekten betrachtet", erklärt Wahlster. "Selbst das entstehende Produkt kommuniziert mit den Systemen. Es sagt: 'So will ich werden' und zwar bezugnehmend auf den jeweiligen Kundenwunsch. Das Objekt tritt an die Maschinen heran."
Vier industrielle Revolutionen macht Wahlster aus. Die Einführung der Mechanik Mitte des 18. Jahrhunderts markierte die erste. Es folgte die arbeitsteilige Massenfertigung, wie sie die Ford-Werke vorexerzierten. Dann kam die Einführung erster Roboter, von Elektronik und IT. Nun steht die vierte Revolution vor der Tür. "Wir wollen sie eher als Evolution gestalten."
"Was wäre, wenn ich Unikate zum Preis von Massenprodukten herstellen kann?", fragt Wahlster. "Wir haben ja jetzt schon personalisierte Produkte. Wenn Sie heute ein Auto kaufen, ist das schon ein Unikat. Jedes Auto ist unterschiedlich." Das sei der große Trend. "Jeder möchte sich von anderen abgrenzen, jeder hätte lieber ein individualisiertes Produkt." Darauf müsse die Industrie reagieren.
Jedem sein Müsli
Eine weitere Herausforderung seien die immer kürzeren Produktzyklen: Immer schneller werde Neues auf den Markt geworfen. "Außerdem sind die Märkte volatil: Was heute in ist, kann morgen schon ein Flop sein." Industrie 4.0 sei die maßgeschneiderte Lösung, sie berücksichtige all diese Faktoren. "Und was uns die Kanzlerin noch vorgegeben hat: Wir sollen stärker ressourcenschonend tätig sein."
Wahlster erklärt das Konzept von Industrie 4.0 am Beispiel von mymuesli, einer Firma, die jedem sein individuelles Müsli liefert. "Sie können am PC oder per Smartphone Ihr Müsli zusammenstellen." In der Fabrik wird es dann gemischt: Eine leere Müsli-Hülse fährt durch die Hallen und wendet sich jeweils an die passenden Befüll-Automaten. Sie kommuniziert per Chip mit diesen Automaten und fordert so die passenden Müsli-Komponenten an. Alles ist vernetzt, doch nichts wird zentral gesteuert. Wünschen Kunden eine neue Zutat, wird ein neuer Füllautomat in das Maschinenensemble integriert. Wo früher für einen Produktwechsel die ganze Fabrik lahmgelegt und neue Maschinen angeschafft werden mussten, kommt nun lediglich ein Modul hinzu oder es wird eines ausgetauscht. "Das ist die Idee von Industrie 4.0: flexibel, schnell und kostengünstig."
Mit solch einem Konzept könne unter anderem die Verlagerung von Produktionsstätten in Niedriglohnländer gestoppt und sogar rückgängig gemacht werden. "Wenn Sie ein individualisiertes Produkt in China herstellen, dauert es lange, bis es hier ankommt. Aber wir wollen so ein Produkt schnell haben."
Der Mensch im Mittelpunkt
Wahlster vergleicht Industrie 3.0 und 4.0 mit Klassik und Jazz. "In der klassischen Musik haben Sie einen Dirigenten, der den Takt angibt. Beim Jazz kommunizieren die Musiker untereinander." Entsprechend tickt der moderne Industrie-Jazz: Die Produkte sprechen mit den Robotern und die Roboter verständigen sich untereinander.
"Ich komme jetzt aber auch zum Menschen“, sagt Wahlster. "Er muss im Mittelpunkt bleiben." Die sensomotorischen Fähigkeiten des Menschen seien weiterhin unübertroffen, das müsse genutzt, aber auch optimal geschult werden. "Wir brauchen in den modernen Fabriken mobile, personalisierte Lernsysteme. Wenn ein Werker an die Maschine tritt, vermittelt sie ihm, wie er mit ihr umzugehen hat." Bosch hat im saarländischen Homburg eine Modellfabrik für Ventile aufgebaut, in der das bereits praktiziert wird. "Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind regelrecht begeistert."
Der Arbeitsplatz stellt sich auf den Arbeitenden ein: Der Roboter reicht eine Schraube erst an, wenn der Mensch sie braucht. Eine Arbeitsplatte hebt oder senkt sich auf die für den Menschen jeweils ideale Höhe. Das interaktive Fertigungssystem von Industrie 4.0 stellt nicht nur individualisierte Produkte her, es nimmt auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als individuelle Einheiten wahr und stellt sich auf sie ein.
Vorsprung von zwei Jahren
Es habe sich gezeigt, dass mit Vollautomatisierung nur schlecht individualisierte Produkte herzustellen sind. Hier sei das Wechselspiel von Mensch und Maschine gefragt. Die Modernisierung im Sinne von Industrie 4.0 zerstöre deswegen keine Arbeitsplätze, es sichere sie. Früh seien auch die Gewerkschaften in das Zukunftsprojekt eingebunden worden, nun stehe etwa die IG Metall geschlossen dahinter.
"Ich glaube, Industrie 4.0 ist eine ganz tolle Weiterentwicklung für uns", bekräftigt Wahlster. "Industrie 4.0 ist zum Megatrend geworden und das wird vor allem Deutschland zugeschrieben. Wir sind quasi Pilgerstätte für Industrie 4.0 geworden." Die Bundesrepublik habe auf diesem Gebiet einen Vorsprung von rund zwei Jahren. "Wenn wir es hinkriegen, diesen Vorsprung zu halten, können wir Arbeitsplätze nicht nur erhalten, sondern sogar Produktion nach Deutschland zurückholen."